HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG, 01.10.02 GESICHTER & GESCHICHTEN So erging es am Sonntag im Schauspielhaus Herrn Möllemann,
dem größten der lebenden Selbstgerechten. Sssssss. Täter
war Regisseur Christoph Schlingensief (41), größter lebender
Selbstdarsteller, der Plakate der Politiker im Versuch beschädigte,
eine Wirkung zu erzielen ("Tötet." Pause. "Möllemann."). gum
HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG, 30.09.02
Eine halbe Stunde vor Ende der Aufführung gleicht die Bühne eher dem Szenario nach einer Voodoo-Orgie: Eine malträtierte menschengroße Puppe liegt auf dem Boden, ein blutiger Hahn - echt oder nicht? - mit abgehacktem Kopf, Hühnerfedern, zertrümmerte Möbel, durchbohrte Politiker-Plakate, eine zerstochene Dia-Leinwand. Die komplette erste Zuschauerreihe verlässt die Plätze, mindestens zehn Besucher quittieren die Vorstellung ganz, und eine Frau im Publikum ruft: "Das ist so widerlich! Das ist ekelhaft!" Theaterprovokateur Christoph Schlingensief hat es wieder einmal geschafft. Sein Publikum zu verstören, wachzurütteln, aufzuklären, zur Wut zu bringen - je nachdem, wie man's sieht. Nur knapp zwei Stunden hat er dafür gebraucht, bei seiner Show mit dem eigentlich unverfänglichen Titel "Quiz 3000 - Du bist die Katastrophe", inszeniert am Sonntagabend im hannoverschen Schauspielhaus. Dabei hatte der Abend ganz vergnüglich begonnen. Da wurden drei Videokameras auf das Publikum gerichtet, das sich so gefilmt auf zwei großen Leinwänden selbst betrachten konnte - verschnitten mit Sexszenen der schlingensiefschen Schautruppe. Der halbwissende Zuschauer dachte sich noch: "Oh, das bin ja ich - jaja, der Schlingensief, was der da wieder mit uns macht." Dann öffnete sich verzögert der Vorhang, es folgte ein Publikums-Warm-up und endlich: der Meister selbst. In Moderatorenpose, die Arme weit von sich gestreckt, frenetisch beklatscht und voll des Lobes über die Stadt an der Leine: "Hier ist eine Stadt, die ein Vorbild für uns alle ist. Hier ist eines der besten Theater in der Bundesrepublik, ein Applaus für dieses Haus!" Bald erklärt er eine der Spielregeln des Abends. Nach dem juristischen Intermezzo in Sachen Möllemann-Tötungsaufruf in den vergangenen Monaten hat sich Schlingensief entschlossen, nur noch "Tötet!" zu rufen - den Rest möge das Publikum besorgen. Das funktioniert anfangs mit dem Namen des FDP-Politikers noch recht gut - mehrere Dutzend beteiligen sich -, wird gegen Mitte der Show im Fall des hannoverschen Oberbürgermeisters aber kehleneinschnürend: Gerade mal ein Einziger findet es geschmackvoll genug, den Namen "Schmalstieg" ins Rund der Verunsicherten zu bellen. Am meisten bekommen indes die Kandidaten der Wer-wird-Millionär-Parodie ab. Nach dem öffentlichen Casting am Freitag sind die nun den Launen des Quiz-Meisters auf der Bühne ausgesetzt. Die mutigen zehn lassen sich beschimpfen ("Ich verachte Sie"), von der Bühne verweisen ("Ich kann Studenten nicht haben"), als schwul outen und gar körperlich maßregeln: Da drückt Schlingensief einen Feuerwerker der Bundeswehr ("Haben Sie schon jemanden getötet?" - "Bislang noch nicht") unsanft mit der Hand zu Boden. Der Mann versucht aufzustehen, Schlingensief lässt ihn nicht, drückt weiter, empfiehlt ihm, den Job zu wechseln. Dann lässt er ihm im Namen der schlingensiefschen Revolutionsreligion Vergebung zukommen. Kurze Zeit später verlässt der Mann entnervt die Bühne. Das übrige Quiz gerät zur Farce. Eine einzige Kandidatin darf überhaupt nur Fragen beantworten - solche wie "Ordnen Sie die folgenden Konzentrationslager von Nord nach Süd" und "Welcher FDP-Politiker war an der Erschießung von mindestens 112 holländischen Juden beteiligt?". Schließlich geraten die Kandidaten endgültig ins Abseits des Bühnenrands, und Schlingensief verlegt sich auf die Beschimpfung der "Fuzzis" im Publikum, nimmt besagten Hahn und eine Axt, verschwindet, kommt blutüberströmt und mit tierischem Kadaver wieder. Er zerfetzt eine Leinwand und droht, leere Patronenhülsen in den Zuschauerraum zu werfen - mit der Empfehlung, den Raum zu verlassen, in Stuttgart habe sich ja schließlich schon mal jemand verletzt. Alles nur Spiel, Satire darf alles? Schlingensief überschreitet Grenzen. Er mutet seinen Kandidaten mehr zu, als sie wohl erwartet haben. So gibt der Profi Schlingensief sie, die Laien, im wahrlich ungleichen Kampf auf der Bühne der Öffentlichkeit preis. Die Kandidaten haben sich darauf eingelassen, aber wer von ihnen kannte wohl wirklich Schlingensief vorher? Dahinter steckt für das Enfant terrible Konzept: "Die Revolution findet in uns selbst statt", deklamiert er. Alles dreht sich um Macht: Da stehen zwei potenziell freie Menschen auf der Bühne. Der eine, Schlingensief, übt Macht aus, der andere unterwirft sich (oder auch nicht). Und so spielt sich Schlingensief als Diktator und Bühnengott auf, im offenen Widerspruch zu seinem Ideal des "Keiner wird unterdrückt" und in Vorführung sozialer Mechanismen. Am Ende gibt es nur verhaltenen Applaus. Aber immerhin taucht der Hahn unbeschadet wieder auf. Johannes Dorndorf
Pressesiegel der Mai-Veranstaltung am Schauspielhaus, Frankfurt Frankfurter Rundschau vom 20.5.2002 Die Katharsismaschine - Theater als Polis bei Schlingensiefs "Quiz 3000" Von Florian Malzacher Fragen über Fragen. Sortieren Sie folgende Konzentrationslager von Nord nach Süd, zum Beispiel. Oder: Ordnen Sie die Ereignisse am letzten Tag im Leben von Robert S. chronologisch. Oder: Wie viele Menschen sind in Abschiebehaft am Frankfurter Flughafen bisher ums Leben gekommen? Fragen, die man lieber nicht hören will, vor allem nicht in einer Quizshow, wo der Skandal nicht die Frage, sondern der Anschein ihrer exakten Beantwortmöglichkeit ist. Christoph Schlingensiefs Quiz 3000 - Du bist die Katastrophe, das nun am Schauspiel Frankfurt zwei Abende zu Gast war, stülpt sich die Hülle der Jauch'schen Wer wird Millionär-Show über, zerrt und zuppelt an ihr, vernachlässigt, was nicht interessiert (die Kandidaten zum Beispiel und gern auch mal die Antworten) und zieht dafür uns selbst als neuen Inhalt mit hinein: Die Welt in der wir leben als Zusammenhang. Das Gegenteil also vom punktuellen Trivial-Pursuit-Faktenwissen, wie man es bei Jauch braucht. Ein strukturalistischer Aufklärer anstelle eines positivistischen Belehrers. Anders als bei der Berliner Premiere, wo der Moralist scheint's als Teufel die Aggressionen lieber auf die Kandidaten lenkte (FR vom 18. 3.), ist in der stark veränderten Frankfurter Fassung Schlingensief wieder zur sich selbst für unsre Sünden opfernden Heilandsfigur geworden: Ein theatralischer Sündenbock und Seher und Held zugleich, eine wandelnde Katharsismaschine, ein Furcht-und-Mitleid-Erzeuger. In kaum einer anderen Schlingensief-Arbeit ist die Nähe zum griechischen Theaterkonzept so plausibel und wirkungsvoll wie hier. Nicht nur Christoph Schlingensief als Subjekt-Repräsentant wird in Frage gestellt, vor allem die Zuschauer werden zur Frage, werden mit (nonverbalen) Fragen bombardiert. Ein Frageterror, der weniger Antworten als Haltungen verlangt - die Möglichkeit des Zurücklehnens gibt es nicht, unentwegt muss das Publikum fühlen, reflektieren, sich positionieren, wie in keiner anderen Theatersituation unserer Zeit. Wegen dieser immensen Lebendigkeit ist - trotz aller Komplexität und Reflektiertheit im nur vermeintlichen Chaos - das Gelingen der Show immer auch von der Tagesform abhängig, weshalb der zweite Frankfurter Abend explosiver war als der erste. Schließlich ist alles immer Theater - was Mancher, nicht nur wenn's um Strafanzeigen geht - vergisst. Dass alle Schlingensief-Aktionen nur als eine Art theatralischer Pakt funktionieren können, darauf weist er in seiner Inszenierung gleich mehrfach und gleich zu Anfang hin: Erst nach einem Tschechow-Monolog, der Leiden, Leidenschaft und Theater in einen Zusammenhang stellt, geht der Vorhang auf. Und bevor er sich zwei bis zweieinhalb Stunden später wieder senkt, nochmals ein Monolog vor menschenbedeckter Schlachtfeld-Bühne: Ein Shakespeareschluss, ein Theaterschluss. Quiz 3000 ist eben nicht die Summe von Aktionen, obwohl es derer genug gab, vom Mordaufruf gegen allerlei Politiker, Stühle zerschlagen und Behinderte aus- (oder doch eher in den Mittelpunkt?) stellen - alles bekanntes Repertoire, das alleine nichts erklärt ohne Kontext und Struktur. Und die Kandidaten? Wo alle gefragt sind, stehen sie jedenfalls nicht im Mittelpunkt. Am ersten Abend sehen sie sich ohnehin gleich an den dunklen Bühnenrand verbannt, um erst zum Schlussapplaus - unbefragt - wieder aufzutauchen. Am zweiten dann werden sie in einer langen Vorstellungsreihe präsentiert, vorgeführt und gerne auch beleidigt, etwa wegen Schielens oder eines Schnurrbarts. Und dann gab's ja noch die hübsche Kandidatin mit der aufgerollten Unterhose - "ein Trick", damit es ausschaut, als habe sie keine an. Kann so jemand echt sein? Mit kokettem, schlaunaivem Mädchen-Augenaufschlag gesteht sie ihre wahre Sorge: Eine Wissensfrage, das fänd sie etwas doof. Aber ums Wissen geht es ja ohnehin weniger als ums Erkennen. Und so liefert Schlingensief später außer Atem noch im größten Tumult und Chaos den Außenblick der Rezeption: "Ich fand's provozierend - Na, ich fand's poetisch." [ document info ]
Schlingensief verstörte im Schauspiel das Publikum Die eigens für die Veranstaltung gecasteten Kandidaten aus dem Rhein-Main-Gebiet kamen fast gar nicht zu Wort. Schlingensief stellte die Fragen stattdessen einer offenbar eingeweihten «behinderten Frau». Die Aufführung im ausverkauften Schauspielhaus dauerte gut 100 Minuten. Vielen Zuschauern war Verärgerung anzusehen. Nur wenige wirkten amüsiert. Am Samstagabend sollte es eine zweite Aufführung geben.
Publikumsbeschimpfung !
Main-Echo vom 21.5.2002 Er will nicht unterhalten und schon gar nicht fair sein »Quiz 3000« heißt die Show, bei der Chris-toph Schlingensief in den Fußstapfen von Rate-König Günther Jauch durch die Theaterlandschaft stapft. Beim Kandidatencasting in Frankfurt kam es am vergangenen Montag zu ersten Turbulenzen. Als die Wachmänner der Deutschen Bank den Schlingensief-Trupp anrücken sahen, ließen sie die Rollgitter sinken. Die Kollegen von der Dresdner Bank waren nicht ganz so flott. In ihrem Vorraum konnte Schlingensief sein Casting beginnen. Ein Mitarbeiter versuchte den Eindringling zu vertreiben. Der aufgeregte Spätdienstleister machte als Videoprojektion im Großen Haus des Frankfurter Schauspiels noch Spaß. Lachen und Klatschen angesichts seines Spießer-Outings. Eine Stunde später verlassen dieselben Zuschauer die Vorstellung; einer gibt dem anderen die Klinke in die Hand. Sie amüsieren sich nicht mehr, sind gelangweilt, kapieren die blöden Späße von Schlingensief nicht. Warum wirft der sich dauernd auf den Boden wie dereinst Michel Friedman, der damit die Aufführung von Fassbinders »Der Müll, die Stadt und der Tod« verhindern wollte? Das ist nicht lustig. Oder doch? Warum droht er den Aktionären, sie mitsamt ihrem Aktienpaket zu überfahren. Das ist unfair. Oder doch nicht? Schlingensief will nicht unterhalten, er will nicht amüsieren, er will nicht fair sein. Er hält jedem Zuschauer den zugehörigen Reizstoff so lange unter die Nase, bis der reagiert. Dabei führt er seine Zuschauer auf die gleiche Weise vor wie den Mitarbeiter der Dresdner Bank. Im »Quiz 3000« findet jeder seinen Reizstoff. Zunächst die Tierfreunde: Ein Huhn, beengt im Käfig hockend, bringt Achim eine Frage weiter, wenn er ihm hinter der Bühne den Kopf abhaut. Achim kommt mit blutendem Hühnerkopf in der einen und Hühnertorso in der anderen Hand zurück. Oh Wunder der Requisite! Nur der Kopf blutet und nicht der Leib, also ist das getötete Huhn nicht echt. Glück gehabt, keine Aufregung nötig. Dann sind die Heimatvertriebenen dran: Die schlesische Telefonistin nimmt telefonische Fragen entgegen, die keinen interessieren. Roberto Cappelluti rennt mit dem Mikrofon durchs Publikum und sammelt Antworten, die ebenfalls keinen interessieren. Christoph Schlingensief tanzt über die Bühne, was auch niemanden interessiert. Zwischendurch tauscht er sich mit Helga und Achim über die Fragen aus, die Geld bringen. »Welche Abiturprüfung schwänzte Robert Steinhäuser am Freitag, dem 26. April 2002?« Helga hat einenBuckel, ihr Mann Achim ist extrem kurzsichtig und seine Hose steht offen. Helga und Achim sind die Behinderten, die Peter Kern als Sonderkandidaten mitbringt. Als ihn ein Herzanfall niederwirft, liegt er wie ein gestrandeter Wal auf der Bühne. Der Vorhang fällt (»is jetzt Pause?«), Geschrei nach Feuerwehr und Rettungsdienst, der Vorhang geht auf, Peter Kern ist wieder hergestellt. Er sitzt neben Brigitte Seebacher-Brandt, die nicht höchstselbst erschienen ist, sondern von einer Schauspielerin auf Krücken über dieBühne geschleppt wird und immer wieder äußert, wie todtraurig sie über den Verlust von Willi Brandt ist. Dabei ist sie doch jetzt mit dem Chef der Deutschen Bank zusammen, oder? Und der ist der Nachfolger von Alfred Herrhausen, der laut Schlingensief »wie ein HB-Männchen in die Luft ...« gegangen ist. Selbst Helga weiß, dass die Deutsche Bank mit dem Geld der Taliban-kontrollierten afghanischen Staatsbank wirtschaftet. Was für ein Glück! Helga ist genauso unecht wie das tote Huhn und Peter Kerns Herzattacke. Sonst wäre es ein echter Aufreger für die moralisch Einwandfreien, wie Schlingensief die Frau vorführt. Als Kandidatin hatte sie sich dadurch qualifiziert, dass sie die Begebenheiten am letzten Tag von Robert Steinhäuser, dem Erfurter Amokläufer, am raschesten in die richtige Reihenfolge bringen konnte. Es begann mit dem Belügen von Mutter Steinhäuser und endete in einer Katastrophe. Ja, so sind die Geschichten, die Christoph Schlingensief im Alltag aufsammelt. Er zeigt, dass wir alle mehr wissen, als wir wahrhaben wollen. Dieses Wissen lässt sich nicht in hygienisch einwandfreie Portionen verpacken wie die Marmelade in einem billigen Hotel. Einem kollektiven Groll über die böse Welt verweigert sich Schlingensief. Er entzieht sich den tollen Leuten, die seine tolle Show sehen wollen, um sich toll zu fühlen, weil sie ihn tollfinden. Schlingensief funktioniert nicht wie die Toten Hosen oder die BöhsenOnkelz. Lieber setzt er eine Vorstellung in den Sand und lässt sich dafür watschen, als dass er sich Bussis des Dankes auf die Wange drücken ließe. Doch was wurde aus den medienwirksam gecasteten Kandidaten für das Frankfurter »Quiz 3000«? Die zehn Männer und Frauen wurden mit großem Brimborium auf die Showbühne geführt und von zehn wunderhübschen und leicht bekleideten Assistentinnen im Bühnenhintergrund zwischengelagert. Dort strahlten sie bis zum Ende der Show vor sich hin. DenSegelflug zwischen Frankfurts Hochhäusern gewann keiner. Ulrike Krickau
Offenbachpost vom 21.5.2002 Kabinett des Kuriosen Das Segelflugzeug vor dem Frankfurter Schauspiel lockt nicht nur Theatergänger. "Dies könnte Ihr Preis sein", wirbt der Flieger für Christoph Schlingensiefs Ratespiel-Persiflage "Quiz 3000 - Du bist die Katastrophe", das jetzt am Willy-Brandt-Platz gastierte. Im Foyer versammeln sich Kandidaten hinter Absperrband auf Lederpolstern um Erdnussflips, Softdrinks und das elektronische Lagerfeuer, über das irgendein Ratespiel flimmert. Sie warten vergeblich: Denn bei "Quiz 3000" gibt es weder Geld, noch Ruhm zu ernten. Stattdessen werden sie einer Lehrstunde mit dem Holzhammer teilhaftig, alle Register der Fernsehwelt ziehend. In den Mittelpunkt rücken zwei Behinderte, die mit ihrem Wissen zu Startbahn, Friedman, Flughafen-Abschiebung und heiklen Interna der Deutschen Bank glänzen. Auf der Bühne versammelt Profi-Provokateur Schlingensief ein Kabinett der Kuriositäten: da räkelt sich ein übergewichtiger, mit Dynamit bepackter Schnarcher in einem Fernsehsessel, Models marschieren wie Roboter über die Bühne, ein Franz-Lambert-Verschnitt malträtiert seine Orgel, und über Leinwände flimmern Sequenzen von Krieg, Elend, Neonazis und Hitler. Am Rande der Bühne Porträts des Erfurter Massenmörders Robert Steinhäuser und des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, davor Blumen und eine Kerze. Schlingensief dreht derweil Pirouetten auf der Bühne, stößt Verwünschungen aus, flucht und deklamiert. Herrhausen wird zum "HB-Männchen", er brüllt "bringt mir den Kopf von Roland Koch", trampelt auf dessen Porträt herum und erntet dafür tosenden Beifall. Gespielte Herzanfälle, blutige Tieropfer, triefende Sentimentalität: Schlingensief kostet den künstlichen Gefühlshaushalt des Fernsehens bis zur Geschmacklosigkeit aus. Immerhin hat seine rührige Selbstvermarktung in ebendiesem Medium Folgen: Selten war so viel Jugend im Schauspielhaus. Ob die allerdings merkte, dass hier statt Theater nur TV gespielt wurde? CARSTEN MÜLLER
Frankfurter Rundschau Ein Fall für den Pressesprecher der Dresdner Bank: Christoph Schlingensief castet für sein "Quiz 3000" Am Anfang und am Ende: Aufruhr. Geplant,
ruhig und routinemäßig vollzogen, ja sogar mit einem Augenzwinkern.
Ein Aufruhr- und Provokationszitat: Christoph Schlingensief rief auf zum
Kandidaten-Casting für seine Show Quiz 3000, eine Wer wird Millionär?-Adaption,
die am Freitag und Samstag im Schauspiel Frankfurt zu sehen ist. Und weil
Frankfurt Frankfurt ist und Schlingensief Schlingensief, musste dieses
abendliche Casting natürlich in einer Bank stattfinden: Die Deutsche
ließt beim Anblick der Menschenmenge mit ihren "Quiz 3000"-
und "Kandidaten"-Transparenten sofort das Rasselgitter runter,
ein Burggraben war nicht vorhanden.
Pressesiegel der März-Veranstaltung an der Volksbühne, Berlin
"Ordnen Sie folgende KZ von
Nord nach Süd":
Der Regisseur Christoph Schlingensief agiert wie ein Greenpeace-Aktionist: Wenn er ein Thema entdeckt, kettet er sich dran. Die Leute von Greenpeace ketten sich an Bohrinseln, Sondermülltransporter, Reaktoren. Schlingensief kettet sich derzeit an den Quizmasterhocker von Günther Jauch. Quiz 3000 - Du bist die Katastrophe heißt der Abend an der Berliner Volksbühne, der Jauchs erfolgreiche Show Wer wird Millionär? speziell und die deutsche Samstagabendunterhaltung im Allgemeinen nachstellt. Es gibt echte Kameras, und es gibt eine Live-Übertragung zu den Menschen draußen im Land. In Anna Viebrocks sakrales Bühnenbild, das aus Christoph Marthalers Inszenierung der Zehn Gebote stammt, ist der Geist von Köln-Hürth gezogen. Kandidaten kommen aus schalldichten Kabinen, haken sich bei lächelnden Assistentinnen unter, werden auf offener Bühne nachgepudert, dürfen zum Finale nach vorne. Der Master stellt die Jury vor, fragt die Regie, dankt der Technik, überzieht die Sendezeit. Schlingensief macht das alles mit, er ist der Sklave des Sendeablaufs, aber natürlich ist er ein ironischer Sklave. Und das Volksbühnen-Publikum tut das Angemessene, es versucht, möglichst sarkastisch zu jubeln, aufsässig zu klatschen, anarchisch zu schunkeln. Das wohltätige Gift Gut ist Schlingensief immer dann, wenn er so scheinbar absichtslos summend ins Blaue fragt wie Alexander Kluge. Man ahnt dann die Neugierde der Soziologen. Schlingensief verschafft sich nicht wie Pierre Bourdieu Zugang zu fremden Wohnzimmern und fremden Welten, indem er anklopft und Lernfragen stellt, sondern indem er sich ins Fernsehen begibt und versendet. Er probiert alle Wege, alle Winde der Kommunikation, und wenn er könnte, würde er seinen Witz in die Klimaanlagen einstreuen. Einer wie er muss träumen von einem menschenfreundlichen Anthrax, einem gerechten Gift, unter dessen Einfluss man nur das Beste tut. Die prominenten Gäste stören nicht weiter, die
Schauspielerinnen Bibiana Beglau, Corinna Harfouch und Sylvia Seidel,
der ironieresistente Lebemann Rolf Eden, die stadtbekannte Glücksforscherin
Helga Goetze ("Ficken - Frieden - Liebe"). Sie müssen aber
da sein, ihre magische Präsenz soll uns im Glauben bestärken,
hier gehe es um die Rückeroberung öffentlichen Raums. Aber es wäre ungerecht, die Moralkelle für seine
einzige Waffe zu halten. Schlingensief hat das Theater und vielleicht
sogar das Land verändert. Er ist ein Monteur und Collagist, der mit
seinem Material tanzt und es zum Schunkeln zwingt. So hat er die ganze
Kulturszene lockerer gemacht. Er hat Irrwitz als Funktion von Zivilcourage
definiert. Und er übersetzt Courage ins Theatralische: Es gibt keine
Löwenhöhle, die vor seinem Theater sicher wäre. Lauter Fehlbeseelungen Jungle World Das ganze Leben ist ein Quiz Christoph Schlingensief covert Günther Jauchs Millionen-Quiz.
Hallo, hier sind Danni und Joy vom freundlichen Casting-Team von 'Quiz 3000'. Wir haben bereits alle Kandidaten ausgewählt, äähm, Sie müssen also nicht mehr aufs Band sprechen." Hatte ich aber schon längst wie zehntausend andere Berliner gemacht und diverse Freunde angestiftet, es auch zu tun. Wir bekamen keine Chance. Die Frage war eine Nonsensefrage zur Person Christoph Schlingensiefs,
aber die Stimmen der Auswahl-Assis klangen so freundlich, flott und jugendlich,
dass ich beschloss, depressive Verstimmungen in Zukunft durch Anrufe bei
Kandidaten-Hotlines zu bekämpfen, statt beim Kriseninterventionsdienst
anzuklingeln. Also, schon profitiert und was gelernt - nicht umsonst wird
"Quiz 3000" von der Bundeszentrale für politische Bildung
gefördert : Wer lässt uns raten? Die Sozialdemokraten! Die Bewerber, die es auf den Jauch-Stuhl schaffen, sind
entweder blöde oder politische Altaktivisten, die auf nicht unsympathische
Weise ihre Botschaften ans Volksbühnenpublikum richten. Raten müssen
sie nicht, der Moderator leistet charmant-parteiische Hilfestellung, bis
sie ihn irgendwann langweilen und er räumen lässt. Zeitdruck,
neue Gesichter, neue Fragen. Auch die Prominenten werden nicht verschont, Schauspielerin
Sylvia Seidel ("Anna") wird fast lustlos abgewatscht, und was
macht sie? Sie sagt, sie sei gekommen, um einmal mit Schlingensief zu
arbeiten, lächelt und verschwindet aus der Geschichte.
17. März 2002 Wer zur Zeit die Berliner Volksbühne
betritt muss zweimal hinschauen. Der erste Blick reicht bis zum Portal.
Er zeigt geschäftiges Treiben, das mit zahllosen Kameras, Videoleinwänden,
Internetprojektionen und einem Technikerstab auf Computermonitoren professioneller
daherkommt, als es der spätere Ablauf der neuen Show von Christoph
Schlingensief und der Sendeplatz für die Aufzeichnung (Offener Sender
Berlin, 11. April, 12 Uhr) suggerieren. Jauchsches Vorbild, Schlingensiefsches
Sendungsbewusstsein Allzu Konsensfähig Ungemütlichkeit als Qualität
Irgendwann am Freitagabend sagte Christoph Schlingensief, die 70er-Jahre würden wiederkommen, nicht als Farce und sowieso nicht als dasselbe, sondern als Wiederholung, die das Wiederholte erst ganz wirklich macht, wie das Wort "Rosebud", das dem Sterbenden seinen Frieden schenken möchte. Die Quizmania ist ein Seventies-Revival. Alles wieder noch einmal. Radikale Grüppchen, entschiedene Praxiswünsche. "Ficken für den Frieden" und Helga Goetze, die auch mit dabei war, durchaus souverän. Vielleicht waren die 70er die Hoch-Zeit der Quizsendungen. Bis weit in die 90er hatte man Abstand vom Ratespiel genommen, und seitdem rätselt es wieder in Strömen, und wenn man sich das Wort "Quiz" länger anschaut, guckt es ziemlich schnell ziemlich seltsam zurück. Günther Jauch gilt als klügster Mensch Deutschlands. Bildungsratetrash gibts auf vielen Kanälen. Manchmal knurren die billigeren KandidatInnen komisch, wenn sie die richtige Antwort gaben und Gott sagt, es war gut so. Bildungstrash ist Teil eines Systems, in dem die dümmsten Verbrecher, Frauen, Autofahrer mit den klügsten Lehrern Deutschlands (nach Jauch am Samstag) Fang den Hut spielen, und vor der Werbung sagt die normalotrashmäßige Moderatorin: "Nach der Werbung werden hier 14 Lehrerinnen zu sehen sein. Dazu möchte ich Sie wieder vollzählig im Klassenzimmer versammelt sehen." Früher warst du Chance und wähltest dich selbst; nun bist du die Katastrophe als Bewegungsprinzip und sorgst für Unterhaltung im Klassenzimmer des Lebens: als Philosophie studierender Kandidat, der gegen den Rat des Publikums und gegen die mimisch-gestischen Empfehlungen von Schlingensief = Jauch darauf tippt, dass Nordkorea nicht zur "Achse des Bösen" gehört, sondern Afghanistan, als Zuschauer vor dem TV, der die Antwort weiß, aber eben nicht an dem Ort ist, an dem dies Wissen Sinn und Bedeutung hat, als Promijoker Rolf Eden in der Volksbühne. Was der beste Freund bei Jauch ist, den man anruft, wenn man nicht mehr weiterweiß, der vor seiner Antwort immer sagt, aber du wirst auch noch mit mir sprechen, wenn meine Antwort wichtig war, ich bin da ja kein Experte, ist der Promijoker bei Schlingensief, der neben andren Promijokern (Helga Goetze usw.) im schalldicht fensterlosen Container sitzt und nicht weiß, was er mit den andren Promis reden soll (Schlingensief sollte man ja auch mal gemacht haben, denkt es im Promi wohl), und dann kommt die Frage: "Welcher Talkmaster erhielt Geld aus Reihen der CDU, um Parteimitgliedern keine kritischen Fragen zu stellen. A: Johannes B. Kerner, B: Sandra Maischberger, C: Klaus Bresser, D: Erich Böhme?" Der alte Frauenfreund zierte sich, sonnenbankbraun im Gesicht. Nein, er könne sich ja überhaupt nicht vorstellen, dass einer von denen. - Es gebe da aber Aussagen von zwei Redakteuren, das sei alles wasserdicht, also Johannes B. Kerner. - Nein, nein, das kann ich nicht glauben, auch dass ein Kollege das erzählen würde. Denn: "Die Showleute halten alle zusammen. Immer!" Das war der Effekt, den man hatte haben wollen, der Satz, der als Satz Korruption bestätigte, wo er sie abstritt. Würdevoll und vielleicht auch ein bisschen traurig ging dann Rolf Eden wieder. Über einiges ließe sich reden, etwa Fragen
nach der Größe von Stehzellen in Auschwitz oder danach, ob
aus den Haaren der Häftlinge Teppiche oder Rasierpinsel gemacht wurden
oder ob Penisverholzungen und -verkrümmungen lustig sind und was
das dann heißen würde, auch in Bezug auf das fraglose Holocaust-Mahnmal,
in dem die Details der Vernichtung verwandelt sind; oder ob Quiz eine
gute Form der Volksbildung ist. Oder ob man vielleicht eine Quizpartei
gründen sollte. Im Spannungsfeld dieser Fragen stand der bunte Abend,
für dessen ordnungsgemäßen Ablauf OSta Dietrich Kuhlbrodt
sorgte und der mit einem von Schlingensief gesungenen Lied von Rocko Schamoni
ausklang. Der Pförtner war begeistert. Es wurden 9 Euro für
ein Kinderheim in Afghanistan gesammelt und die Volksbühne legte
noch einmal den gleichen Betrag drauf.
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